Der Riese Einöder
(neu erzählt nach alten Quellen von Hermann Fuhrmann)
Vor mehr als tausend Jahren, als einst die Awaren in unser Land einfielen und es verwüsteten, flohen die Bewohner der Wachau vor dem Feinde. Unter den Flüchtlingen befand sich auch eine vornehme und wohlhabende Witwe aus Mautern namens Gula mit ihrem unmündigen Sohn. Sie verließ aus Furcht vor den heranrückenden feindlichen Scharen ihre Burg an der Donau und zog mit dem Kinde in die Wildnis der Berge wo sie in einer Höhle hausten. Der Knabe wuchs zu einem Riesen mit großer Kraft. Da er in der Einöde der Berge aufwuchs, nannten ihn die Leute den Einöder, manche auch Änother. Eines Tages kam die Kunde, daß Karl der Große die Awaren bekriegen wolle und er bereits mit seinen Heerscharen heranrücke. Der tapfere Einöder reihte sich in Karls Kriegsscharen ein und kämpfte mit Kühnheit und großer Kraft gegen den Feind, um seiner Mutter Not zu rächen.
Er durchwatete die tiefsten Flüsse und zog dabei sein Pferd hinter sich. Er spießte sieben Feinde auf einmal gleich Fröschen auf seine Lanze und trug sie in einer Hand vom Kampfplatz, während er mit der anderen sein Schwert führte und ganze Rotten von Feinden niederstreckte. Er war so stark, dass er mit seiner Kraft ein ganzes Heer ersetzte. Deshalb erhielt er den Ehrennahmen „Einheer“. Bald verbreitete sich die Kunde von seinen Waffentaten und die Awaren flohen entsetzt, wo immer sie ihn im Kampf erblickten.
Seine Mutter war indessen in der fernen Gebirgshöhle gestorben, wohin sie einst mit ihrem Kinde und reichen Schätzen geflohen war. Diese Kostbarkeiten liegen bis heute im sicheren Versteck und kein Mensch konnte sie bisher finden.
Nach seinem Tode wurde der Riese Einöder in den Anninger entrückt. Er wohnt bis heute tief drinnen in der Einödhöhle und gilt im Volk als der mächtigste Hüter des Landes gegen die Einfälle feindlicher Heere aus dem Osten.
Sagen über einen Riesen Einöder findet man auch in der Wachau, im Waldviertel und im Ötschergebiet.
Sie lassen sich möglicherweise auf die Sage vom Riesen Einheer aus dem Schwabenland zurückführen.
Der kämpfte im Heer von Karl dem Großen abwechselnd gegen Hunnen, Awaren, Ungarn und Wenden. Auf die Frage, wie es ihm im Krieg ergangen sei, soll er gesagt haben: „Was soll ich viel von diesen Fröschlein sagen! Ich trug ihrer sieben oder acht am Spieß über die Achsel, weiß nicht, was sie quaken, ist der Mühe nicht wert, dass der Kaiser so viel Volks wider solche Kröten und Würmlein zusammenbracht, ich wollt’s viel leichter zuwegen gebracht haben!“
Eine Felsformation in der Pfaffstättner Einödhöhle zeigt angeblich das Gesicht des versteinerten Riesen.
Das Bild stammt von einer Ansichtskarte aus den 1930er Jahren. Wer findet den Riesen heute noch?
Quellen:
- Franz Kissling: „Frau Saga“ Nacherzählung R. Riedel
- Mally: „Niederösterreichische Sagen“, 1926, zit. in „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“ 2. Abt. NÖ, Band 4, herausgegeben von Erzherzog Rudolf, Wien 1888
- Plöckingert: „Sagen der Wachau“
- Alfred Walk: „Heimatkunde Rodaun“
- Günther Schützl: „Kultur auf Schritt und Tritt“, Verlag Kral
- Jacob und Wilhelm Grimm :“Deutsche Sagen“, Kassel 1816-18
- Heimatmuseum Pfaffstätten
Ansichtskarte aus den 1930er Jahren.